Im Sommer 2002 nahm alles seinen Lauf. Wir bekamen einen Anruf vom Ordnungsamt einer Stadt aus dem näheren Umkreis, dass dringend ein Rottweiler untergebracht werden müsste. Da wir zzt. „Rottweiler-frei“ waren, haben wir Interesse signalisiert und ein Ortstermin wurde ausgemacht. Die Stadt sagte uns, dass es sich um einen ca. 2 Jahre alten unkastrierten Rüden handele, der im Alter von einem Jahr als Fundhund zur Stadt kam und anschließend in einer Hundepension untergebracht worden sei.
Zusammen mit der Stadt, unseren beiden Tierpflegern und ich fuhren wir zur Tierpension. Dort wurden wir in eine Zwingeranlage geführt, die mit frischem Sägemehl ausgestreut war; es roch wie im Zirkus, Tageslicht fiel kaum dort rein. Und da saß er mit einem Weibchen zusammen und knurrte uns erst mal an. Jake, sei sein Name, sagte man uns. Ich fragte, wie er denn an der Leine so sei. Keine Ahnung, er käme nur in den Freilauf! Jedenfalls baten wir den Hundepensionsbesitzer, uns den Hund anzuleinen damit wir uns in einer stressfreieren Atmosphäre ein eigenes Bild machen konnten. Ein Halsband trug er nicht! Dazu wurden wir herausgeschickt, zuschauen durften wir nicht. Von draußen hörten wir nach kurzer Zeit Tumulte und hohes Fiepen. Kurze Zeit später kam der Hund mit dem Pensionsbesitzer heraus. Steckesteif stand er nun da und wir waren genauso ratlos wie vorher. So richtig zutraulich und damit vielleicht vermittelbar präsentierte sich Jake nicht. Aber dort lassen, damit der Hund sein weiteres Schicksal derart fristet? Nein, das wollten wir auch nicht. Kurzer Kriegsrat und wir beschlossen, ihn bei uns aufzunehmen. Nur wie ins Auto? Auf unser Bitten versuchte der Pensionsbesitzer dieses und erntete ein wütendes und drohendes Knurren. Schlussendlich gelang es uns mit Hilfe des Weibchens, ihn ins Auto zu lotsen. Beim Wegfahren hören wir noch den gutgemeinten Rat des Pensionsbesitzers, dem Hund nicht an Hals zu gehen und evtl. ein Halsband anzuziehen. Noch trug er das von uns mitgebrachte Halsband, das viel zu weit um seinen Hals baumelte.
Unruhig verfolgte er die Fahrt und schaue die ganze Zeit mit seinen braunen Augen aufmerksam in der Gegend rum. Er war sowieso ein bildschöner Kerl, unkupierte Rute und ein athletischer Körperbau.
Im Tierheim angekommen gingen wir erst mal Gassi. Aufgeregt schnüffelte er überall herum, wir kamen fast nicht von der stelle, alles wurde markiert.
Gleich für den nächsten Tag machten wir einen Kastrationstermin. Frohen Mutes näherten wir uns mit dem Maulkorb, damit er der Tierärztin nichts tut, aber… kaum sah er das Ding, fing er an zu knurren und schoss gegen das Gitter. Er hat sicherlich damit keine angenehmen Erfahrungen gemacht. Schließlich schaffte es die Tierärztin, ihn über Medikamente so weit ruhig zu stellen, dass an eine Kastration zu denken war. Unter Narkose konnte man in seinem Hals Würgemale sehen, er wurde wahrscheinlich nur mit Schlinge ins Freigehege geführt!!! Was muss dieser Hund alles erlebt haben? Aus seiner Vergangenheit erfuhren wir nur, dass er, als er als Einjähriger gefunden wurde, ein netter Hund war, nichts von seinen unsichern Drohgebärden. Ein Jahr reichte aus, um ihn komplett umzukrempeln.
In den nächsten Tagen nahm ich mir viel Zeit für ihn, verbrachte Stunden bei ihm im Zwinger, machte Spaziergänge und so langsam kam er aus sich heraus. Schmusen wollte er andauernd und wenn er die Leine sah, konnte man seine Freude in seinen Augen blitzen sehen. Wenn alles ruhig war, legte er sich zu mir und schlief halb auf meinem Bein ein. So langsam stieg sein Vertrauen und er wurde ruhiger. Solange man ihn in Ruhe ließ und keinen Druck auf ihn ausübte, zeigte er sein freundliches Wesen.
Aber wehe, man wollte vom ihm was: ins Platz legen? Steckesteif und ein drohender Blick; in der Nähe seines Zwingers, wenn er am fressen war? Selbe Reaktion. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er zumindest kleine Fortschritte macht. Sogar mit meinem alten Rüden vertrug er sich und so gingen wir immer zu dritt spazieren.
Leider war mein Urlaub auch irgendwann vorbei und der Alltag holte uns ein. Abends nur noch eine halbe Stunde mit ihm beschäftigen, mehr war einfach nicht drin.
Und dann kam eines Tages das, was wir immer vermeiden wollten. Sein Halsband war ihm über den Kopf geglitten und lag friedlich im Zwinger, es grinste uns gerade zu an. Wir erinnerten uns an die Worte des Pensionsbesitzers „…nicht an den Hals gehen!“. Kein Wunder, wenn er immer eine Schlinge drum hatte, die ihm schreckliche Schmerzen zufügte. Kerstin, unsere Tierpflegerin, und ich überlegte angestrengt, was tun. Es nützte ja nichts, das Halsband musste wieder an. Mit mulmigem Gefühl ging ich in den Zwinger, fing an zu schmusen wie immer und zog ihm dabei im Spiel das Halsband wieder an. Er ließ es sich gefallen! Wer schon mal eine ähnliche Situation erlebt hat, weiß, wie man sich danach fühlt. Ich hätte die Welt umarmen können.
Wir übten das Halsband an- und ausziehen, Das Auto ein- und aussteigen und andere Dinge des täglichen Hundelebens, aber Maulkorb? Das war DAS rote Tuch! Ansonsten war er zu seinen Betreuern nett, er duldete sie. Und nur einigen wenigen schien er ein bisschen Liebe zu schenken.
Leider zeigte er sich nicht immer und allen gegenüber so freundlich. Nur einen ausgewählten Kreis ließ er mit der Zeit noch an sich ran. manchmal brummte er schon, wenn ihm jemand fremdes Futter brachte. Und je länger er da war, desto dominanter wurde er. Leute, die er früher geduldet hatte, schnappte und biss er auf einmal weg. Es wurden immer weniger und so konnten wir den Hund bestimmt nicht vermitteln. Wir versuchten alles: dem „Einstellungstest“ für die Hundestaffel der Polizei unterzogen wir ihn, aber im letzten Moment zeigte er doch Angst und versteckte sich hinter dem Baum und mir, nur um gleich wieder hervorzuschießen, als der Tester ihm den Rücken zudrehte. Auch das war also nichts.
In unserer Ratlosigkeit wandten wir uns an die Stadt, von der wir den Hund bekommen haben, ob sie uns in irgendeiner Form unterstützen könne. Aber alle Hilfsvorschläge liefen darauf hinaus, dass man einen geeigneten Hundeführer finden müsse, der mit Jake Einzelunterricht macht, Verhaltenstherapeuten besucht und sich voll und ganz ihm widmet. Und so jemand finden, der das alles auf sich nimmt und auch genügend Zeit hat?
Um auf Nummer sicher zu gehen, ließen wir 2 Gutachten über Jake erstellen, beide kamen leider zu dem Schluss, dass Jake mit Menschen nichts zu tun haben will. Er ist ein Einzelgänger und duldet den Menschen auf Dauer nicht neben sich.
Nun ja, wenn wir Jake schon nicht so hinbekommen sollten, dass er vermittelt werden kann, dann vielleicht eine artgerechte Haltung in einem Hunderudel, wo dieser junge Modellathlet alt werden kann. Auch kein schlechtes Leben für einen Hund. Unsere Kerstin fuhr mit einem Helfer in den Westerwald, wo schwierige Hunde Zeit ihres Lebens in einem Rudel gehalten werden können. auch hier stand nach kurzer Zeit fest: Jake würde sich in kein bestehendes Rudel integrieren; zu allem Überfluss biss er auch dort noch den Helfer!
Zum ersten Mal standen wir vor der Entscheidung, ein junges Tier einschläfern zu lassen, weil er eine Gefahr für die Menschen darstellt. Lange haben wir das Thema diskutiert, alle Möglichkeiten abgewogen, aber eine Alternative fiel uns leider nicht ein. Als Alternative schlossen wir aus, ein Tier für die nächsten 12-14 Jahre in Einzelhaft im Zwinger zu halten, ohne dass er genügend Abwechslung und Auslauf bekommen kann. Und auch noch eine Bedrohung für die darstellt, die ihm helfen wollen. Man mag vielleicht sagen, die Listenhunde (Staffords usw.) fristen ein ähnliches Schicksal. Dieses kann ich klar verneinen, jeder unserer Listenhunde hat mindestens einen ständigen ehrenamtlichen Betreuer und es ist nicht vermessen zu behaupten, dass unsere Listis mehr rauskommen und unterwegs sind, als manch anderer Hund.
Es blieb nichts anderes übrig, wir mussten diesen schweren Gang gehen. Für mich stand fest, dass ich ihn auf diesem Weg begleiten werde, schließlich war ich auch dabei, als er zu uns kam und ich habe sehr viel Zeit mit ihm verbracht und ihn richtig lieb gewonnen. Auch Kerstin sagte zu, sie wolle uns beide nicht alleine gehen, einer müsse ja schließlich auch auf mich aufpassen.
An einem Freitag im Februar war es soweit. Wir gaben ihm wieder Medikamente und konnten ihm so einen Maulkorb anlegen. Er war darüber alles andere als begeistert und zeigte uns das auch deutlich. Im Auto lag er unruhig; ich bin der festen Überzeugung, dass Tiere spüren, dass etwas Schreckliches passieren wird.
Bei der Tierärztin angekommen musste ich Jake ganz festhalten und sie narkotisierte ihn zuerst mit einer Spritze. Kaum dass ich ihm etwas Luft ließ, schoss er schon vor und gebärdete sich wie doll. Zum Glück setze die Wirkung recht bald ein. Zuerst saß er, dann rutsche er langsam auf den Boden, schaute mich dabei die ganze Zeit mit seinen braunen Augen an und legte schließlich den Kopf auf meinen Fuß. Oh nein, auch das noch, konnte er mich nicht mit Verachtung strafen? Gerne hätte ich gewusst, was jetzt in ihm vorgeht, vielleicht hätte ich dann nicht so viele Schuldgefühle gehabt?
Nach kurzer Zeit bekam er eine zweite Spritze, er zuckte nur noch kurz auf. Die liebe Tierärztin ließ uns mit ihm alleine und wir verabschiedeten uns von ihm, redeten über die schönen Dinge, die wir mit ihm erlebt haben, streichelten ihn dabei die ganze Zeit und weinten. Er atmete tief und ruhig.
Schließlich fragte uns die Tierärztin, ob wir nun herausgehen oder doch noch dabei sein wollen, es wäre kein schöner Anblick. Wir blieben! Sie setzte die Spritze direkt ins Herz, damit der Tod schnell für ihn kommt.
Sie hörte ihn ab, mehrmals … und es war kein Herzschlag mehr zu hören. Da lag er nun, friedlich. Die braunen Augen starr. Jake, ich hoffe, nein, ich bin mir sicher, dass Du es im Regenbogenland viel besser hast, als Du es hier unten auf der Erde angetroffen hast und ich freue mich, wenn ich Dich dort eines Tages treffe. dann toben wir wieder zusammen über die Wiese.
Vom Menschen so gemacht, dass er mit Menschen nicht mehr leben konnte oder wollte. Haben wir das Recht dazu?
Ralf Wunderlich, März 2003